Diese Frage begegnet uns in Mythen, Märchen und modernen Erzählungen, von Dornröschen bis hin zu den Abenteuern von Videospielhelden. Doch heute wollen wir diese Erzählung nicht einfach als ein Relikt patriarchaler Gesellschaften betrachten, sondern sie durch die Linse der „energetischen“ Philosophie wie z.B. im Taoismus und der Vorstellung von männlichen und weiblichen Qualitäten beleuchten.
Ein wichtiger Aspekt, den wir dabei nicht außer Acht lassen dürfen, ist jedoch, dass die meisten Märchen von Männern und den Welt- und Wertebildern ihrer – oft patriarchal geprägten – Zeit aufgeschrieben und gefärbt worden sind. Diese Färbung hat dazu geführt, dass viele dieser Geschichten durch eine Brille betrachtet werden, die heute nicht mehr zeitgemäß erscheint. Diese Perspektive, die die Märchen durch die Linse von Hierarchie und Geschlechterrollen filtert, verdeckt leider oft den eigentlichen Wert und die tieferen Weisheiten, die sie für uns heute noch haben könnten. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die ursprüngliche Symbolik in vielen dieser Geschichten viel mehr über universelle Kräfte und Energien aussagt als über geschlechtsspezifische Rollenbilder.
Gegensätze im Gleichgewicht
In vielen Kulturen gibt es die Idee von den polaren Kräften, die alles Leben ausbalancieren. Z.B. Yin, das traditionell als weiblich betrachtet wird, steht für das Weiche, das Empfängliche, das Innere, die Dunkelheit und das Fließende. Yang hingegen, das als männlich angesehen wird, verkörpert das Aktive, das Helle, das Äußere und das Durchsetzungsvermögen.
Wenn wir die Geschichte der Prinzessin, die gerettet werden muss, aus dieser Perspektive betrachten, dann geht es nicht nur um die Rettung einer passiven Figur durch einen starken Helden. Stattdessen symbolisiert die Prinzessin oft das Yin-Prinzip: Sie steht für das Potenzial, das Kreative und das Empfängliche, das möglicherweise zurückgezogen oder gefangen ist. Der Held hingegen repräsentiert das Yang, die aktive Kraft, welche diese Qualitäten des Yin, des Kreativen, entfesseln oder erweitern muss.
Gemeinsam mehr sein
Doch was bedeutet es wirklich, wenn die Prinzessin gerettet wird? In dieser Erzählung geht es oft darum, dass das Weibliche durch das Männliche erweitert wird. Der Held bringt nicht nur äußere Rettung, sondern auch neue Impulse, die das Weibliche auf eine neue Ebene heben. Diese Rettung ist nicht einfach nur physischer Natur – es ist eine Erweiterung der weiblichen Kräfte durch das Einbringen der männlichen Aspekte wie Mut, Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit. Die Prinzessin wird befreit, um ihre eigene Macht voll zu entfalten, sei es in Form von Weisheit, emotionaler Tiefe oder spiritueller Erkenntnis. Die männliche Kraft hilft ihr, ihr Potenzial zu aktivieren.
Aber dies ist nur eine Seite der Medaille. Es gibt auch andere Märchen, in denen das Männliche um das Weibliche erweitert wird. In Geschichten wie „Die Schöne und das Biest“ sehen wir, wie das männliche Prinzip, oft in einer rohen und ungezähmten Form, durch die Begegnung mit der weiblichen Kraft transformiert wird. Das Biest – Symbol für rohe Yang-Energie – muss die Qualitäten des Yin, wie Mitgefühl, Sanftheit und innere Reflektion, annehmen, um ganz zu werden. Hier ist es die Frau, die das Männliche rettet, indem sie ihm hilft, seine emotionale und spirituelle Dimension zu entwickeln.
Balance finden
Diese Märchen zeigen uns, dass es nicht immer um die physische Rettung geht. Es ist der Austausch, die Balance und die gegenseitige Befruchtung von männlichen und weiblichen Qualitäten, die in diesen Geschichten zentral ist. Man könnte sagen, dass in beiden Erzählformen, ob die Prinzessin oder der Held gerettet wird, der wahre Schatz in der Integration der jeweils fehlenden Aspekte liegt.
Wenn wir das Motiv der Rettung der Prinzessin mit dieser Linse betrachten, erkennen wir, dass es nicht nur um Machtverhältnisse oder Heldenmut geht. Es geht um den Prozess der Vervollständigung – die Vereinigung und Erweiterung von Yin und Yang. Beide Kräfte brauchen einander, um ihre wahre Stärke zu entfalten.
Die Tatsache, dass viele dieser Märchen durch die patriarchalen Werte ihrer Zeit eingefärbt wurden, sollte uns nicht davon abhalten, die tieferliegende Weisheit in ihnen zu erkennen. Statt diese Geschichten einfach als veraltet abzutun, können wir sie heute in einem neuen Licht betrachten – als Symbole für die Harmonie zwischen den Kräften des Lebens, die über Geschlechterrollen weit hinausgehen.