Warum ist die Welt der Märchen eigentlich immer diese antiquierte, oft mittelalterlich anmutenden Welt? Wieso sind die Helden in Märchen meist Könige, Prinzessinnen, tapfere Ritter oder einfache Bauersleute? Warum spielen sich die Geschichten oft in Wäldern, Burgen oder einfachen Dörfern ab? Und wieso sprechen Tiere, Wälder, Bäche?

Um das zu verstehen, müssen wir tief in die Ursprünge der Märchen eintauchen.

Märchen sind nicht einfach nur unterhaltsame Geschichten – sie sind viel mehr. Sie sind Ausdruck tiefer innerer Prozesse, die Menschen über Jahrhunderte hinweg beschäftigt haben. Um das greifbar zu machen, müssen wir uns vorstellen, wie die Menschen zur Zeit der Entstehung dieser Geschichten lebten und wie sie ihre Welt wahrgenommen haben.

Keine Worte für innerseelische Prozesse

Zu der Zeit, als Märchen entstanden, gab es noch nicht die psychologischen Begriffe und Theorien, die wir heute kennen. Die Menschen hatten keine Worte für das, was wir heute als innere Konflikte, Ängste, Wünsche oder psychische Prozesse bezeichnen würden. Stattdessen mussten sie auf Bilder und Symbole zurückgreifen, die sie in ihrer Umgebung beobachten konnten. Ein Wald war nicht einfach nur ein Wald – er wurde zu einem Symbol für das Unbekannte, für die Herausforderungen und Gefahren, die auf dem Weg zum Erwachsenwerden warten. Ein Königreich repräsentierte nicht nur eine politische Einheit, sondern auch den inneren Zustand von Ordnung und Harmonie, den ein Mensch in sich selbst zu erreichen versucht.

Die Welt der Märchen ist eine animistische Welt

Die Welt, in der diese Geschichten entstanden, war für den Menschen eine animistische Welt. Das bedeutet, die Menschen gingen davon aus, dass die gesamte Natur – Bäume, Flüsse, Steine – beseelt sei. Alles um sie herum war lebendig und hatte eine Bedeutung. Diese animistische Sichtweise hat tiefe Spuren in den Märchen hinterlassen. In diesen Geschichten sprechen Tiere, Bäume helfen den Helden, und Zauber wirken auf Gegenstände ein. Es ist eine Welt, in der alles miteinander verbunden ist und alles eine Bedeutung hat.

Die Fähigkeit, die Zeichen der Natur zu lesen

Damals besaßen die Menschen eine besondere Fähigkeit, die uns heute oft fremd erscheint: Sie konnten die Zeichen der Natur lesen. In einer Zeit, in der man auf die Beobachtung der Umwelt angewiesen war, um zu überleben, besaßen die Menschen ein tiefes Verständnis für das Verhalten von Tieren, die Spuren im Wald, die Wetterphänomene und die jahreszeitlichen Veränderungen. Jede Veränderung, jedes Geräusch, jede Bewegung hatte eine Bedeutung. Sie konnten das Knacken eines Zweiges oder das Flattern der Vögel deuten und daraus Rückschlüsse ziehen – auf Gefahren, das Wetter oder die Bewegungen von Tieren.

Dadurch nutzten sie weitaus größere Bereiche ihres Gehirns, als es uns heute in der modernen Welt, die von Technologie dominiert wird, oft möglich ist. Ihre Fähigkeit, die Geräusche der Natur zu deuten und darin „Botschaften“ zu erkennen, gab ihnen das Gefühl, dass die Natur selbst zu ihnen „spricht“.

Wenn in Märchen also der Wind flüstert, der Wolf spricht oder ein Baum den Weg weist, ist dies Ausdruck dieser tiefen Verbundenheit mit der Umwelt. Für die Menschen damals war es nicht nur Fantasie, sondern eine sehr reale Erfahrung, dass sie durch das Lesen der Natur deren „Sprache“ verstanden.

Märchen als Ausdruck dieser Wahrnehmung

Durch diese animistische Weltsicht und die enge Verbindung zur Natur fanden die Menschen eine Sprache, um ihre inneren Prozesse auszudrücken. Der dunkle Wald wurde zum Symbol für den Weg ins Ungewisse, für die Begegnung mit den eigenen Ängsten. Die böse Hexe oder der Drache verkörperten die zerstörerischen Kräfte, die im Inneren lauern. Und die Heldin, die durch all diese Gefahren geht, ist nicht nur ein mutiges Mädchen, sondern ein Symbol für den inneren Kampf und die persönliche Entwicklung.

Symbole des kollektiven Unbewussten

Märchen sind voll von solchen Bildern und Symbolen, die uns heute noch ansprechen, weil sie tief in unserem kollektiven Unbewussten verankert sind. Der berühmte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung prägte den Begriff des kollektiven Unbewussten. Darunter versteht man einen Teil des Unbewussten, den alle Menschen teilen. Es ist ein Reservoir an Erfahrungen, Bildern und Symbolen, die unabhängig von Kultur und Zeit in uns allen vorhanden sind.

Diese Symbole finden wir in den Märchen: Die Reise des Helden steht für die innere Transformation, die böse Stiefmutter für die Bedrohung der eigenen Identität und der Schatz am Ende des Abenteuers für die Erfüllung und Selbstverwirklichung. Auch wenn wir heute in einer völlig anderen Welt leben, sprechen diese Bilder immer noch zu uns, weil sie universelle menschliche Erfahrungen widerspiegeln.

Märchen als zeitlose Erzählungen

Und genau deshalb sind die Settings der Märchen so „veraltet“ und gleichzeitig so zeitlos. Sie greifen auf Bilder zurück, die aus der Umgebung der Menschen entstanden sind, die damals lebten. Burgen, dunkle Wälder, einfache Dörfer – all das waren reale Orte, die jedoch in den Märchen zu Symbolen für seelische Prozesse wurden. Diese Bilder haben sich über Jahrtausende entwickelt und sind tief in unserem Unbewussten verankert.

Heute greifen wir noch immer auf diese symbolische Ebene zu, auch wenn unsere Welt technologisch fortgeschritten ist. Wir leben vielleicht nicht mehr in kleinen Dörfern am Rande von dunklen Wäldern, aber die Symbole, die damals entstanden sind, sprechen uns immer noch an. Die Reise des Helden ist auch heute noch die Reise, die jeder von uns im Leben antritt.

Fazit

Märchen mögen in einer längst vergangenen Welt spielen, doch die inneren Prozesse, die sie ausdrücken, sind universell und zeitlos. Die Geschichten bedienen sich der Symbole, die die Menschen in ihrer Umwelt fanden, um etwas viel Tieferes auszudrücken: die Dynamiken des menschlichen Geistes.

In der animistischen Welt der Märchen lebt alles – nicht nur die Natur, sondern auch unsere innere Welt. Diese Geschichten sind daher mehr als nur Unterhaltung; sie sind Spiegel unserer tiefsten, seelischen Strukturen. Durch ihre Fähigkeit, die Sprache der Natur zu „lesen“, konnten die Menschen damals ihre Umwelt und sich selbst besser verstehen – eine Weisheit, die uns auch heute noch viel zu sagen hat. Deshalb werden uns Märchen noch lange begleiten.

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